Zukunft bauen im Waisenhaus
Lassen Sie uns diesen Bericht mit einigen beinharten Fakten einleiten: Die Hälfte der afghanischen Bevölkerung ist jünger als 18 Jahre. Rund 2 Millionen davon leben als Waisen, unzählbar viele Kinder in Afghanistan leiden an post-traumatischen Stress-Syndromen und mehr als 400 000 sind behindert, entstellt durch Landminen.
Und doch schwebt über diesen kleinen Menschen ein unerschütterlicher Lebensmut. Eine heimliche Freude auf alles Schöne, was da noch kommen soll, übermalt all die Schrecken der bisherigen Lebenserfahrungen.
Im staatlich geprüften Netz geborgen
Im Allhaudin–Waisenhaus sind die ganz Kleinen und die Mädchen untergebracht, es sind Waisen und andere bedürftige Kinder.
„Teilweise lesen wir die Kinder von der Straße auf, viele werden von Verwandten hergebracht, die sich aufgrund ihrer eigenen schlechten wirtschaftlichen Situation nicht um sie kümmern können. Herumstreunende Kinder sind perfekte Opfer für Drogendealer und terroristische Netzwerke, die ständig auf der Suche nach Rekruten sind…“, erklärt Soraya Abdullah Hakim, die Direktorin des Amtes für staatliche Waisenbetreuung. Aus ihrer Biografie geht zwar hervor, dass sie viele Jahre als Exilafghanin in den USA verbrachte, doch nun betont die Dame nachdrücklich, dass sie im Dienste des Ministeriums für Arbeit und Soziales in Afghanistan steht. Zwar gibt sie sich durch und durch unsentimental und kühl, professionell kalkulierend, aber gelegentlich bezeichnet sie sich selbst als „Mutter von mehr als zehntausend afghanischen Kindern“.
Tatsächlich ist sie verantwortlich für 24 Waisenhäuser, zwei davon in Kabul. Derzeit bieten diese beiden Zentren circa 650 Kindern Obdach, ein Mindestmaß an Hygiene, schulische Erziehung und eine verlässliche Gemeinschaft. Von liebevoller Zuneigung durch die ErzieherInnen sieht man als Besucher eher wenig, doch das mag an der Kultur liegen: Die Pädagogik hat grundsätzlich andere Richtlinien hier und die persönlichen Streicheleinheiten, die vermutlich auch afghanische Kinder ab und zu benötigen, passieren im Falle des Falles zumindest hinter verschlossenen Türen. Diskretion und Bewahrung vor bösem Erinnern fordert Präsidentin Hakim auch von Journalisten: „Sie dürfen die Kinder gerne befragen, aber nicht zu ihren Familien und nicht zu den Gründen, warum sie hier sind!“ Wenigstens ein Elternteil von so manchem Kind hier im Heim lebt zwar, doch die Armut oder komplizierte Familienverhältnisse erzwingen die Trennung.
Hakims Ziel auf weitere Sicht ist die Schaffung von Tages-Betreuungszentren. Dort sollen die Kinder täglich drei vernünftige Mahlzeiten bekommen und zur Schule geschickt werden, aber danach heimkehren zu den Familien.
Mit skeptischem Blick auf die Fotokameras erteilt uns die Direktorin eine weitere Anweisung: „Mädchen ab zehn Jahren dürfen nicht fotografiert werden. Wir sind hier in einem muslimischen Land, bitte respektieren Sie das!“
Insgesamt beschäftigt die Institution allein in Kabul 350 Angestellte: ErzieherInnen, Reinigungspersonal, Gärtner, LehrerInnen und so weiter. Viele von ihnen sind Witwen, sie bekommen für ihre Dienste von der Regierung lächerliche 20 $ pro Monat, aber dennoch sind sie froh über diese Anstellung. Anderswo könnten sie ihre eigenen Söhne und Töchter nicht mitnehmen zur Arbeit, wo denen obendrein noch eine gute schulische Ausbildung zukommt.
Dringend Schutz bedürftig
Das Allhaudin-Waisenhaus ist ausgestattet mit Schlafsälen, Klassenräumen, einer Wäscherei, Speisesälen, Spielplätzen und allem anderen, was ein Zuhause eben braucht. Rund 220 Kinder bevölkern dieses Haus, wirken im Großen und Ganzen zufrieden darin und auch gut versorgt.
Die jungen Damen ab der 5. Schulstufe besuchen die Highschool außerhalb des Allhaudin-Geländes und kommen nach der Schule anscheinend alle gern wieder zurück. „Wir nennen diesen Platz Zuhause, nicht Kinderheim!“ Die Mädchen lernen hier außerdem das Kochen und Nähen. Man will überlebensfähige, junge Menschen in die raue afghanische Welt da draußen entlassen, wenn sie dann die Volljährigkeit erreichen.
Wie Mann sein soll
Tahai Maskan, das große Waisenhaus im Nord-Westen der Stadt Kabul, beherbergt ausschließlich Jungen zwischen 10 und maximal 18 Jahren. Als wir dort eintreffen, sind die Eindrücke erst mal ausschließlich heftig: Von außen erinnert der Gebäudekomplex an Kommunismus und Zuchthaus, es riecht nach unzureichenden Sanitäranlagen und klingt wie Revolution. Ein undefinierbarer Gegenstand fliegt aus dem Fenster herunter in den Innenhof.
Aber aus der Nähe betrachtet – und das ist nicht schwer, denn die jungen Männer drängeln sich auf engstem Raum aneinander und an uns – gewinnen die Waisen rasch an Sympathie. Im Wohnbereich malen die Älteren gerade die Wände der Schlafsäle neu aus. Man versucht ja alle zu größtmöglicher Selbständigkeit zu erziehen. Verschiedenste Praktika und die Fahrschule mit Führerscheinprüfung, gehören ebenso zum Programm des Waisenhauses, wie das nützliche Handwerken in der eigenen Wohnumgebung. Immer wieder arbeitet man mit Firmen oder Institutionen zusammen, welche die Jugendlichen auf technische Berufe vorbereiten sollen.
Und auch der Bezug zur bitteren Realität darf nicht ausgeklammert werden: Die Direktorin Soraya Hakim verteidigt die Tatsachen: „Es ist doch völlig okay, wenn die Jugendlichen neben der Schule ein bisschen Geld verdienen – als Zeitungsverkäufer oder Boten – das ist doch in Frankreich oder in den USA genauso üblich!“
Die meisten Jungen, die man hier persönlich kennen lernt, wirken vorerst eher schüchtern, aber dann entpuppen sie sich doch zu neugierigen, irgendwie allesamt etwas zu frühreifen, ernsten Kindern. Manche der Jugendlichen demonstrieren selbstsicher ihre klaren Vorstellungen und Zukunftspläne, geben sich wunderbar gefestigt, auch im religiösen Sinn. „In Allahs geheiligtem Namen: Ich bin Muhammed Amin….“ – Welcher 15-Jährige in Europa würde sich in solcher Weise ausdrücken, wenn man ihn fragt, wie er heißt? Den Burschen geht es gut im Waisenhaus – „besser als vielen, die da draußen leben“, versichert uns eine Erzieherin. Die Meisten verlassen ihre Ersatzfamilie im Tahai Maskan erst mit 18 Jahren, zu diesem Zeitpunkt will man sie alle ausreichend für das autonome Leben vorbereitet haben. Adoptiert wird praktisch nie jemand, denn die meisten Waisen haben Verwandte, die das nicht erlauben würden.
Fürs Leben lernen statt für die Schule
Früher, als noch rund 2000 Schüler hier lernten, wurde im Zweischicht-Betrieb unterrichtet. Im Moment besuchen nur 450 Kinder diese Schule und trotzdem erscheint alles viel zu eng. Frontalunterricht ohne Alternativen fesselt die Lernenden an ihre rostigen Schulbänke und die Ergebnisse präsentieren sich in sauberen bis hilflos krakeligen Mitschriften in den Heften der Kinder. Bei Unterrichtsmitteln ist man auf Spenden angewiesen, das Ministerium bezahlt freilich nur die bescheidenen Pädagogen-Gehälter.
Die 48 Lehrer sollen im Übrigen nicht bloß die informativen Inhalte ihrer Spezialfächer vermitteln, sondern vor allem die Moral der Kinder stärken und mündige Menschen
aus ihnen machen. Der Englischlehrer, ein Idealist wie alle hier, führt uns seinen Primus vor: Amidula, 16 Jahre alt, plappert drauf los, wobei seine Miene stets todernst bleibt: „Ich mag Englisch lernen, weil es eine internationale Sprache ist. Ich will in Afghanistan leben, meinen armen Landsleuten helfen, weil Afghanistan ein sehr armes Land ist…“
Alles klingt auch bei ihm, als hätte er die kurze Rede auswendig gelernt und doch reagiert er ganz konkret auf meine Fragen, also soll an dieser Stelle niemandem unterstellt werden, Botschaften ans Ausland eintrichtern zu wollen. Die jungen Männer werden aber auf jeden Fall bestens zu bedingungsloser Vaterlandsliebe erzogen.
„In der Zukunft will ich ein guter Arzt werden,“ sagt er – mit der deutlichen Betonung auf gut.
Amidullah, der 43 jährige Schulleiter, ist seit 19 Jahren in diesem Haus tätig und es ist ihm eine Ehre, speziell die Waisenkinder Afghanistans zu erziehen, weil dieser Auftrag auch einen moralischen Aspekt hat. Das sieht der Vater von sechs eigenen Sprösslingen als schöne Herausforderung. Während des Krieges wechselte er immer wieder den Wohnsitz, weil die Frontlinie ihm zu ständig zu folgen schien, aber er blieb mit Kind und Kegel in Kabul.
Unter den Taliban war er bloß Assistent. Die Unterrichts-Fächer waren zu 100% religiös und die Lehrer allesamt Geistliche. Man lernte das heilige Buch auswendig und die Regeln der Obrigkeit, studierte den Koran lernte aus- wendig, betete… Aber immerhin: „Geschlagen wurden die Kinder nicht, man behandelte sie gut.“ Aus lauter Angst gab es ohnehin keine Widerrede gegen Anordnungen der Taliban-Lehrer oder des Taliban-Schulleiters.
Die Zahl der Waisenhausbewohner sank damals drastisch ab: Viele Burschen verfrachtete man direkt in militärisch-extremistische Trainingslager im Süd-Osten des Landes. Und auch Mädchen verschwanden, vermutlich wurden sie in Pakistan oder anderen Ländern verkauft.
Der Schuldirektor Ammidullah wirkt gezeichnet von den Enttäuschungen, aber seine Augen blitzen immer wieder kurz auf, wenn er von einzelnen Kinderschicksalen spricht, die man zum Positiven wenden konnte. – Ob wohl all die Berufsvorstellungen der Jungen realistisch sind, fragen wir den Herrn in der Kanzlei. Höflich antwortet er mit einer Auflistung der größten Erfolge: Einer seiner ehemaligen Schützlinge schrieb ein Buch über das Schicksal von Waisenkindern in Afghanistan, ließ dabei natürlich eigene Erfahrungen einfließen und lebt nun von der Schriftstellerei! Ein weiterer spezialisierte sich als Arzt auf Magen-Darm- Erkrankungen und eröffnete unlängst eine eigene Praxis im Zentrum von Kabul. Und schließlich notiert er: „Derzeit studieren 15 unserer Schul-Abgänger an der medizinischen Fakultät.“ – Ein echter Grund, stolz zu sein.
Weiter gehen, weiter lernen
Der Alltag im Tahai Maskan-Waisenhaus nimmt ungebremst und ohne Weichzeichner seinen Lauf. Für die Meisten bedeutet das 365 Tage im Jahr hier zuhause zu sein, denn Urlaub gibt es nicht und für Manche nicht einmal Besuche.
Der Schwerpunkt liegt bei Jedem einzelnen selbst: „Wie komm ich am besten durch und hab vielleicht sogar ein wenig Spaß daran?“ Bei unserem Rückzug aus dem Areal riechen wir die modrigen Teppiche und die überstrapazierten Toiletten längst nicht mehr. Die Blicke der Jungen, die ich anfangs als verzweifelte Kampfansagen empfand, spüre ich mittlerweile eher wie ein wortloses Betteln.
Hoffentlich stillt die Zukunft jene Sehnsüchte nach einem Leben mit ein bisschen mehr von allem …
© Alexandra Grill, 2008